NEVER EVER EXCHANGE THIS: DIE »GUNAFA TWINS«

Katalogtext zur Personale STATION ROSE | N.E.X.T. Never Ever Xchange This

Der Charakter heutiger Avantgarde ist tendenziell prozesshaft und situativ, ambulant und temporär, kontextbezogen und konnotativ, retrospektiv und zugleich prospektiv, also retrovisionär, und nicht zuletzt grenzüberschreitend. Mit Grenzüberschreitung ist gemeint, dass die Funktion der Kunst sich in Richtung Gestaltung des Lebens verlagert.1
Paolo Bianchi

Was der Schweizer Kurator und Theoretiker Paolo Bianchi Mitte der 1990er Jahre als Charakteristikum jener Zeitkunst beschrieb, die auf die Vernetzung von Kunstproduktion, Leben und Kunstwelten im Sinne eines »Lebenskunstwerks« (»Lifescape«) hinarbeitete, lässt sich praktisch 1:1 auf das gesamte, heute über 25 Jahre alte und immer noch junge »Lebenskunstwerk« der Station Rose übertragen. Wobei mit Blick auf deren Vorgeschichte alles sogar noch früher begann.

»One sunny day Lisa & I looked each other in the eye and thought: ›we hafta become the gunafa twins‹, and accompanied by the sounds of The Animals we got into the ›We Gotta Get Out of This Place‹ groove«, tippte Gary Danner 1996 in Erinnerung an die gemeinsame Schulzeit in Linz um die Mitte der 1970er Jahre ins Netz.2 Wenig später sollten die beiden auch schon »out of« Linz und mitten in Wien sein, Elisa Rose studierte Mode bei Karl Lagerfeld und Gary war neben seinem Kunststudium an der »Angewandten « Bandleader, Gitarrist und Sänger von Gruppen wie The Vogue (1979‒81) und Die Nervösen Vögel (1981‒87). Gemeinsam gestalteten sie Performances wie z.B. die 1983 im U4 aufgeführte Modenschau Kreuze, Blumen, Drachen mit handbemalten Stoffen, selbstgemachten Accessoires und Live Band samt Mischpult und Tape Loops.3 Das war im Grunde schon jene multimediale Kunst, welche die beiden ein Jahr nach Abschluss ihrer Studien bei Oswald Oberhuber an der Angewandten auf die Fahnen ihrer – im März 1988 – an der Wiener Margaretenstraße gegründeten Station Rose schrieben: »Station Rose ist ein Projekt, dessen Aufgabengebiet multimediale Kunst ist. Ein Ort, an dem Kunst und Konzepte entstehen, dem die Idee des Gesamtkunstwerkes zugrundeliegt, der die Entwicklung eines neuen Kunstbegriffs und die Verwendung ›neuer Werkzeuge‹ genauso miteinschließt wie die Möglichkeit zur Serienproduktion. Ähnlich wie bei einer […] Forschungsstation werden hier primär nicht Ergebnisse präsentiert, sondern es entstehen Konzepte und Ideen, die oft gemeinsam mit geistesverwandten Künstlern, Musikern, Kritikern, Ökologen und Wissenschaftlern […] realisiert werden.«4 Diese Station Rose war ein ca. 70m² großes Arbeits-, Präsentations- und Diskussionslokal mit zwei Schaufenstern, das zugleich auch der erste »public media-art space« in Wien war, ein Knotenpunkt für die damals noch kleine, aber hochaktive Gruppe von Networkern, Hypermedia-Künstlern und anderen »digital bohemians«, wie Elisa und Gary sich und ihre Community bezeichneten.

Sehr lange aber blieb die Station Rose nicht stationär in Wien, schon 1991 übersiedelten sie – nunmehr unter gleichlautendem Label, abgekürzt: STR – in das aufgrund seiner prosperierenden Business-Skyline »Mainhattan« genannte Frankfurt a. Main, wofür auch ein 1988/89 wahrgenommenes Stipendium in Kairo mitverantwortlich war. Ihr Blick auf die westliche Gesellschaft, deren Kunst- und Kommunikationsformen hatte sich dort radikal gewandelt: »We saw clearly how the so called third world is the first world concerning music, installation, setting and performance art. There’s great art everywhere that you never read about in Time Magazine, you see it everywhere in the streets as well as in TV shows & concerts.« Als ein Ergebnis dieser Erfahrungen wurde Gunafa – »a modern electronic hypermedia chaos which we believe is the future, e.g. on the web!«5 – dann auch definitiv realisiert, und zwar zunächst in Form von Techno-Clubbings, die STR bald in selbst komponierte und improvisierte audiovisuelle Live-Performances über Patterns und Loops in Echtzeit weiterentwickelte. Gary Danner war dabei stets fürs Auditive verantwortlich und Elisa primär für das Visuelle – »diese zwei Dinge passen dann ohne irgendeine vorangegangene inhaltliche Abstimmung zusammen, das heißt, wir sind permanent im Austausch, ohne dass wir uns vorher ein schriftliches Konzept setzen. Wir improvisieren.«6

So funktioniert das prinzipiell heute noch, wenn auch unter teilweiser Verwendung neuerer Technologien. Station Rose generiert bei ihren Gunafa Clubbings sensationelle Environments aus Klängen und synästhetisch bewegten Bildern, die über die Wände, Böden und Decken der Räume takten, in denen sie agieren. 2013 verwandelten sie auf diese Weise z.B. die Linzer Tabakfabrik sowie die über 1000 m² große obere Ausstellungshalle der Kunsthalle Wien in jeweils sich über Stunden hinweg audiovisuell permanent neu definierende Dance Floors,7 und 2014 performierten sie zur Eröffnung ihrer Ausstellung N.E.X.T. Never Ever Xchange This bei Graf+Zyx in deren Tank 203.3040.AT in etwa so, wie dies der mit STR in den 1990ern assoziierte Medientheoretiker Howard Rheingold bereits 2010 beschrieben hatte: »Now, they extract material from their real-time performances and integrate that material into their more permanent works. Now, as then, they question where we are and where we are going. If you want to know where the edge of multimedia performance will be located tomorrow, look & listen to Station Rose today.«8

Was auch besagt, dass STR »retrovisionär« im Sinne Paolo Bianchis agieren: sie schöpfen aus der Vergangenheit, um in die Zukunft zu schauen: »Es handelt sich bei unserer Zeit- und Weltreise Richtung Zukunft um die Besinnung auf den Rückspiegel, auf seine zwei Einstellungsvarianten: die extrospektive und die introspektive.«9 Der simultane Blick auf das Jetzt und zurück, nach außen und nach innen, zeitigte für STR auch die Relevanz des »realen« Materials, des real Räumlichen und Haptischen in Relation zur virtuellen Welt des Cyberspace, der flüchtigen, ungreifbaren Bilder und Klänge. »Wir haben das Prinzip New Media Arte Povera entwickelt, das ist eine Mischung aus visueller Kunst und Sound, aber auch mit Fleece- und Wollelementen, mit Stoffen, Stoffdruck, Recycling und Holz, eine richtige Sinnlichkeit«, sagte Elisa Rose in einem Interview anlässlich der von STR in der Linzer Tabakfabrik 2013 errichteten, bespielbaren Installation Digital Quarter Century/DQC.10 Womit STR wieder einmal state of the art sind, denn »es braucht eine Kultur, die die wechselseitige Durchdringung [von Realitäten] zu akzeptieren lernt – als eine Form mit zwei Seiten, die ohne die andere Seite zerfällt: re-entrant statt konkurrierend. Dieses Durchdringungverhältnis ist bildungstheoretisch gewendet möglicherweise am treffendsten als Virtualitätslagerung beschrieben worden. In diesem Zugang wird den virtuellen Aspekten der Realität ebenso Rechnung getragen wie den realen Aspekten der Virtualität.«11

Bis auf Weiteres sei indes empfohlen, sich weniger in theoretischen Gedanken zu verlieren als sich ganz einfach ins nächste Gunafa Clubbing zu stürzen, um zu erleben, wie sich Kunst und Leben, Konstruktion und Emotion, reale und virtuelle Wirklichkeiten zu einer an- und aufregenden »Lifescape« synthetisieren lassen.

1 Paolo Bianchi, »Subversion der Selbstbestimmung. Assoziationen im Spiegel von Kunst, Subkultur, Pop und Realwelt«. In: Kunstforum international 134, Art & Pop & Crossover, Ruppichteroth 1996, S. 56-75, hier S. 58.

2 »Gunafa Twins Return To Vienna«, in: Brainstorms. Digital Zeitgeist, 1996, www.well.com/~hlr/jam/gunafa/ report2.html.

3 Näheres hierzu s. sub Station Rose, in: http://nomadenderzeit.transmitter-x.org/.

4 »1. Konzepttext der Station Rose«, Wien 1988, in: www.stationrose.com/Lecture2001/concept.html.

5 www.well.com/~hlr/jam/gunafa/report2.html. »Gunafa« ist auch der Name einer ägyptischen Süßspeise auf Basis feiner nudelartiger Fäden. Gary Danner erzählte mir, dass Gunafa im Ägyptischen zudem eine Nebenbedeutung hat – schwer zu übersetzen, aber in etwa: »positives Chaos« oder »Sachen, die nicht zusammenpassen auf den ersten Blick, aber doch gut funktionieren«.

6 Michael Knoll, »Station Rose – Digital Quarter Century Shelter«, in: Ars Electronica Blog, 20. 8. 2013, www. aec.at/aeblog/2013/08/20/station-rose-digital-quarter-centruy-shelter/.

7 s. Station Rose, Gunafa Clubbing WWTBD – What Would Thomas Bernhard Do, Kunsthalle Wien Museumsquartier, 24. 5. 2013, www.youtube.com/watch?v=FvSF56272wc.

8 www.stationrose.com/presse/presse.html. 1996–1998 war STR Teil des Virtual Community Projektes »Electric Minds« von Howard Rheingold.

9 Paolo Bianchi, »Das Erkunden der Scherben. Jetzt-Archäologie, Retrovision und archäologische Avantgarde«, in: Speicher. Versuche der Darstellbarkeit von Geschichte/n. Offenes Kulturhaus des Landes OÖ, Linz 1993, S. 73–82. Hier zit. nach: What’s next? 016, whtsnxt.net/016.

10 »Digital Quarter Century_ShelTeR – Station Rose (AT) – Performance«, in: TOTAL RECALL – The Evolution of Memory, Ars Electronica 2013, www.aec.at/totalrecall/2013/07/29/digital-quarter-century_shelter/.

11 Sebastian Plönges, »Die Markierung der Fakultät«, in: Torsten Meyer et al., Medien und Bildung. Institutionelle Kontexte und kultureller Wandel, Wiesbaden 2011, S. 376–381.

Lucas Gehrmann

Kurator, Kunstpublizist und -vermittler, Buch-Redakteur und Lektor Autor und Herausgeber zahlreicher Publikationen, Essays und Rezensionen zur zeitgenössischen Kunst 1995–2004 Verlags- und Programmleiter von Triton – Verlag für Kunst und Literatur, Wien 1997–2005 und 2011–2021 Kurator an der Kunsthalle Wien